Schnappschüsse...
 

Anna Baumgartner
Alfonsina Strada sah ihr Ziel mit all dem Regen und Schlamm den Berg herunterfliessen. Sie musste dieses Radrennen beenden. Sie war gestartet, um es allen zu zeigen. Doch dafür brauchte sie ein Fahrrad.
Und dieses lag nun mit gebrochenem Lenker im Strassengraben.
Zwei Monate zuvor hatte sie an die Tür der Redaktion der «Gazzetta dello Sport» geklopft, grösste Sportzeitung Italiens und Ausrichter des Giros. Im Büro wurde sie von Emilio Colombo empfangen. «Ich will den Giro d'Italia fahren», hatte Strada dem Organisator bestimmt gesagt.
Und angefügt: «Ich zeige dir, dass Frauen genauso Rad fahren können wie Männer.»
Colombo war unter Druck. Auf dieses Jahr gab es beim Giro kein Startgeld mehr, dafür ein Preisgeld von 50'000 Lire. Manager, Masseure, Mechaniker oder Teamautos waren nicht mehr zugelassen. Den grossen Fahrern dieser Zeit gefiel das gar nicht und sie blieben dem Rennen fern. Colombo brauchte nur wenige Minuten, bis seine Entscheidung stand.
In der Startliste, die drei Tage vor dem Start in der Gazzetta abgedruckt wurde, stand hinter der Nummer 72 «Alfonsin Strada». Vielleicht war es ein Tippfehler.
Die Wahrscheinlichkeit ist aber grösser, dass Colombo seinen wie man es heute nennen würde, PublicityStunt erst an der Startlinie enthüllen wollte.
Und so kam es, dass am 10. Mai 1924 89 Männer und eine Frau zum Giro d'Italia starteten.
Selbst ein lebendes Schwein überzeugte die Familie nicht Alfonsina Strada war in armen Verhältnissen aufgewachsen. Als sie 10 Jahre alt war, brachte ihr Vater ein Fahrrad mit nach Hause. Er hatte es gegen ein paar Hühner eingetauscht. Wenn sie konnte, fuhr sie mit dem Velo. Sie liebte das Gefühl der Freiheit, das es ihr gab. Doch ihre Eltern waren nicht einverstanden. Ein Mädchen, das Rad fährt, so was gehörte sich nicht. Teufelszeug sei das. Selbst als sie bei einem Rennen ein lebendes Schwein gewann, konnte sie ihre Familie nicht von ihrer Leidenschaft überzeugen. Die Mutter stellte ihr ein Ultimatum: Entweder sie hört mit dem Radfahren auf, oder sie zieht aus und heiratet.
Alfonsina fuhr weiter. Sie verliess ihre Familie und zog nach Turin, wo sie neben dem Radfahren als Näherin arbeitete. Mit 24 heiratete sie den Graveur Luigi Strada. Zur Hochzeit schenkte er seiner Alfonsina ein Rennrad. Gemeinsam zogen sie nach Mailand. Luigi unterstützte seine Frau, wo es ging, trainierte sie, fuhr mit ihr an Rennen.
Wenn er im Vélodrome stand, hörte er aber immer auch, was ihr nachgerufen wurde, wenn sie in ihren kurzen Hosen in die Pedalen trat. Es waren selten Anfeuerungen.
Strada war gut. Sie startete in Bologna, radelte in Paris, absolvierte zweimal die Lombardei-Rundfahrt. Luigi aber ging es immer schlechter. 1924 musste er in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden. Die 6 Lire pro Woche, die Strada als Näherin verdiente, konnten die Kosten nicht decken. Auch darum tauchte sie im Büro der Gazzetta auf. Denn warum soll sie nicht mit dem Radfahren Geld verdienen. So wie es die Männer schon lange machen.
In der ersten Etappe dieses 12. Giro d'Italia wurde Strada 74., eine Stunde hinter dem Sieger (solche Zeitabstände waren damals normal). Viele Leute lachten über sie. Dichteten Liedchen.
Diese Frau mit der Bubikopffrisur, in schwarzem Trikot und blossen Beinen. Auf einem Rad.
Das widersprach völlig den Moralvorstellungen von Mussolinis faschistischer Gesellschaft.
Doch trotzdem oder wahrscheinlich mehr vor allem deswegen, wurde Strada zur Attraktion. Nach zwei Etappen schrieb die «Gazzetta dello Sport»: «Die Popularität dieser kleinen Frau ist bereits jetzt grösser als die aller abwesenden Champions zusammen.»
In den Bergen stürzte sie, schlug sich das Knie auf. Es war geschwollen und blutete. Sie hatte Platten, musste immer wieder den Schlauch wechseln. Aber Alfonsina fuhr weiter. Dieser Giro war brutal. Die kürzeste Etappe führte über 230 km (Zum Vergleich: Die längste Etappe des Giro 2024 ist 220 km lang.) Sie fuhr nach Rom, fuhr in die Abruzzen. Doch dann wechselte das Wetter. Die Strassen wurden zu Flüssen voller Geröll und Schlamm.
Und bei einem Sturz in der Abfahrt brach ihr der Lenker.
Den Lenker, halb Stahl, halb Holz, umklammerte sie fest Von wo sie den Besenstiel bekam, ist nicht vollständig überliefert.
Was aber klar ist: Alfonsina flickte ihr kaputtes Velo und fuhr weiter, den Lenker, halb Stahl, halb Holz, fest umklammert.
Nach 15 Stunden kam sie in Perugia an. Der Kontrollschluss war lange vorbei.
Per Reglement durfte sie am nächsten Tag nicht mehr weitermachen.
So ging Strada erneut zu Colombo, nahm ihre Startnummer ab und sagte: «Ich hatte Spass.
Wenn ich könnte, würde ich es nochmals machen. Und hast du gesehen? Selbst eine Frau kann Rad fahren.»
Colombo aber wusste, was er an ihr hatte. Sie war der Star dieser Rundfahrt. Die Leute am Strassenrand fragten nicht nach dem Sieger, die einzige Frage, die immer wieder zu hören war, war: «Ist Alfonsina da? Wann kommt sie?»
Der Organisator machte ihr ein Angebot: Sie wurde aus dem Klassement genommen, aber sie durfte weiterfahren. Das Essen und die Unterkünfte zahlte er aus seiner Tasche.
Und so fuhr Alfonsina am nächsten Tag weiter. Sie kämpfte, sie litt, doch sie setzte sich jeden Tag aufs Neue aufs Rad.
Manchmal hielt sie an und verteilte den Menschen am Strassenrand Postkarten, gab Autogramme. Nach der längsten Etappe, die über 415 km von Bologna nach Fiume (das heutige Rijeka) führte, schluchzte sie am Ziel vor Schmerzen und Erschöpfung. Die Leute hoben sie vom Rad und trugen sie davon.
89 Männer und eine Frau waren zu diesem Giro gestartet. Am
1. Juni, nach 3613 Kilometern, fuhren 29 Männer und eine Frau in Mailand ein. Alfonsina Strada hatte es allen gezeigt.
Sie besiegte den französischen Meister
Das Geld, das sie während des Rennens erhielt, schickte sie gleich weiter zu Luigi. Sie nahm an weiteren Rennen teil, wurde eingeladen nach Paris, nach Luxemburg. Sie verbesserte erneut den Stundenweltrekord, besiegte den französischen Meister.
Zum Giro durfte sie aber nie mehr starten. 1946 starb Luigi.
Mit ihrem zweiten Mann, Carlo Massora, eröffnete sie einen Velo-Laden mit Werkstatt. Fausto Coppi und Gino Bartali, die grossen Helden der frühen 50erJahre, schauten gerne bei ihr vorbei. Manchmal zeigte sie den Kindern im Quartier auch, wie diese ihre Velos flicken können.
Als Missouri starb, führte Strada den Laden alleine weiter.
Im September 1959 packte Alfonsina wieder einmal die Lust, ein Radrennen mitzuerleben. Sie fuhr mit ihrer Motoguzzi zum Radrennen «Tre Valli Varesine».
Als sie wieder zu Hause ankam, stellte sie ihr Motorrad vor ihrem Laden ab, doch der Ständer machte ihr Schwierigkeiten. Das Motorrad kippte und begrub die Frau unter sich. Alfonsina Strada starb, 59jährig, auf dem Weg ins Spital, an den Folgen eines Herzinfarkts.
In ihrer Karriere hatte sie 36 Rennen gegen Männer gewonnen. Sie war zeitlebens eine Eigenheit, eine Attraktion, an der man sich ergötzen konnte. Das war nicht immer einfach für sie.
Um Geld zu verdienen, trat sie mit ihrem Rad auch im Zirkus auf. Doch Alfonsina fuhr immer weiter.
«Es tut mir nicht leid», sagte sie einst zur Zeitung «Guerin Sportivo». «Ich bin zufrieden und weiss, dass ich etwas Gutes gemacht habe».